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Jenseits aller Vernunft

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Foto: actionpress/ Revierfoto

Am 24. März ist die Stadt Haltern am See plötzlich in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. An diesem Tag zerschellte Germanwings-Flug 4U9525 in den französischen Alpen. 140 Menschen sind bei diesem Absturz gestorben, darunter auch 16 Schüler und zwei Lehrer des Halterner Joseph-König-Gymnasiums. Sie befanden sich auf dem Rückflug aus Spanien von einem Schüleraustausch. Nachrichtensendungen rund um die Uhr, Zeitungsartikel über Zeitungsartikel und eine Live-Schalte nach der anderen. Mit der Schreckensnachricht kam auch die Presse nach Haltern. Und viele Journalisten haben sich nicht korrekt verhalten.

Sie waren sofort da. Schon wenige Stunden nach den ersten Unglücksmeldungen standen die Journalisten vor dem Joseph-König Gymnasium in Haltern am See. Erst war es nur der Lokalreporter, doch dann kamen auch die Übertragungswagen von überregionalen und internationalen Fernsehsendern. Die Medien wollten berichten – von den Schülern und Lehrern, die ihre Freunde und Kollegen verloren hatten, von den Eltern, die ihre Kinder nie wieder sehen würden und von der Trauer, die sich wie dichter Nebel über das Gymnasium gelegt hat. Eine Katastrophe wie der Absturz vom Germanwings-Flug 4U9525 stößt in der Öffentlichkeit immer auf großes mediales Interesse. Die Menschen möchten wissen, was passiert ist. Sie interessiert, wer betroffen ist und wie es den Angehörigen der Opfer geht. An den ersten Abenden nach dem Unglück war das Fernsehprogramm aller Kanäle gefüllt mit Sondersendungen. Die BILD-Zeitung druckte in der Ausgabe am Tag nach dem Unglück die letzte Seite komplett in Schwarz und selbst CNN berichtete fast ununterbrochen vom Flugzeugunglück. Doch bei genaueren Betrachtung der Pressewelt fällt auf: Vielen Medien geht es längst nicht mehr nur um die klassische Berichterstattung. Diese wäre ja zu langweilig. Die Berichterstattung muss mitreißen, sie muss den Menschen näher ans Geschehen heranbringen. Es muss eine Atmosphäre geschaffen werden, welche nicht nur Mitgefühl, sondern auch Dramaturgie erzeugt. Und damit diese Art der Berichterstattung ihre Ziele erfüllt, müssen private und moralische Grenzen überschritten – mehr noch; Gesetze gebrochen werden.

Eine Absperrung vor dem Gymnasium in Halter. Foto: actionpress/ Revierfoto

Eine Absperrung vor dem Gymnasium in Haltern. Foto: actionpress/ Revierfoto

Ein großer Schriftzug zierte eine Absperrung vor dem Joseph-König Gymnasium in Haltern. “Kamera distanzieren = Trauer akzeptieren” ist darauf zu lesen. Eine Forderung nach Respekt an Journalisten gegenüber den Angehörigen und Schülern, die auf dem Schulgelände gemeinsam trauern. Knapp 50 Kameraobjektive waren am Tag nach dem Unglück vor der Schule aufgestellt, begleitet von rund 300 Journalisten. Medien aus aller Welt berichteten aus der Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Doch aus der journalistischen Arbeit wurde schnell eine Jagd nach den besten Motiven. Die Journalisten, die durch die Absperrung eigentlich auf Distanz gehalten werden sollten, erdrückten in ihrer Masse die Trauernden. Augenzeugen berichten von Szenen wie in einem Zoo-Gehege. Die trauernden Schüler auf der einen, die arbeitenden Journalisten auf der anderen Seite. Wie fühlt sich da ein 16-jähriger Jugendlicher, der möglicherweise zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Tod eines näheren Bekannten konfrontiert wird? Es muss wohl ein schlimmes und erdrückendes Gefühl sein. Ein Gefühl, welches keiner erleben möchte und für dessen Erzeugung sich jeder verantwortliche Journalist schämen muss – müsste.

Doch beim Filmen und Fotografieren hinter der Absperrung ist es nicht geblieben. Das erzählt uns auch Mika Baumeister. Der 19-jährige ist Schüler am Joseph-König Gymnasium in Haltern am See und hat das Fehlverhalten der Presse an seiner Schule miterlebt. “Die Berichterstattung in Haltern war nicht in Ordnung” klagt er. Verständlich, wenn man hört, was sich in den Tagen nach dem Unglück in Haltern abgespielt hat. Immer wieder hätten Journalisten die Absperrung nicht beachtet und sich näher ans Schulgelände geschoben. Auch von noch schlimmeren Grenzüberschreitungen berichtet uns Mika: So habe sich ein Journalist als Seelsorger verkleidet, sich unter die trauernden Schüler gemischt, um diese dann in Gespräche zu verwickeln. Ein anderer wiederum habe einen Blumenstrauß mit einem Aufnahmegerät präpariert und diesen dann in die Nähe der Trauernden gelegt. Natürlich hat nicht jede Zeitung, jeder Fernsehsender oder jede Nachrichtenagentur solch indiskreten Taktiken angewendet. Mika erzählt uns, dass es durchaus einen Unterschied in der Berichterstattung zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anstalten gab: “ARD und ZDF kann man keinen Vorwurf machen, RTL und anderen privaten Sendern dagegen schon.” Auch Boulevardzeitschriften und ausländische Fernsehsender seien in ihrer Vorgehensweise deutlich zu weit gegangen. So hätten mehrere Reporter an den Häusern der Opferfamilien geklingelt und diese auch telefonisch belästigt.

Germanwings-Flug 4U9525 zerschellte in den französiche Alpen Foto: actionpress/ Y.Malenfer - Ministère de l'inté;

Germanwings-Flug 4U9525 zerschellte in den französiche Alpen Foto: actionpress/ Y.Malenfer – Ministère de l’inté;

Seine Erlebnisse von den journalistischen Grenzüberschreitungen veröffentlichte Mika in einem Brandbrief auf seiner Homepage. Innerhalb kürzester Seite trendete dieser in den sozialen Netzwerken und sorgte für große Aufruhr. Nach der Veröffentlichung meldeten sich noch weitere Schüler des Joseph-König Gymnasiums bei Mika und erzählten von weiteren Vorfällen der Medienvertreter. So boten Fernsehsender Schülern Geld für Interviews und Besuchen in Talkshows. Dass die betroffenen Schüler dabei selten älter als 16 Jahre waren, interessierte die Journalisten offenbar nicht. Auch Mika selbst erlebte, wie dreist einige Medien in ihrer Berichterstattung gewesen sind. Bereits wenige Stunden nach Bekanntwerden des Unglücks bekam er einen Anruf mit unterdrückter Nummer auf seinem Haustelefon. Eine große deutsche Boulevardzeitung wollte wissen, in welcher Beziehung Mika zu den Opfern stehe und wie es ihm selbst gehe.

Die achte Ziffer des deutschen Pressekodex besagt, dass “die Berichterstattung  der Medien ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen der Angehörigen findet”.  Alle Journalisten kennen diesen Auszug. Doch viele halten sich nicht an das Vorgeschriebene. Die Ereignisse, die sich in Haltern nach dem tragischen Absturz des Germanwings-Flugzeuges abgespielt haben, zeigen, dass einige Presservertreter ihren Beruf nicht verstanden haben. Gewiss ist es die Aufgabe eines Journalisten, für seine Arbeit zu recherchieren und Nachforschungen zu betreiben. Doch auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ist der Meinung, dass in Haltern Grenzen überschritten wurden. Bereits wenige Tage nach dem Absturz beklagte sie die “rücksichtslose Berichterstattung” einiger Medien. Die Pressestelle ließ im Namen der Ministerpräsidentin gegenüber Pressident verlauten, dass “wir über das Verhalten der Medien noch reden müssen”.

Nachdem die Journalisten die Absperrung am Tag nach dem Unglück noch weiter in Richtung der Trauernden geschoben hatten und auch vor direkten Nahaufnahmen einzelner Personen nicht zurückschreckten, begannen die Schüler des Gymnasiums, den Journalisten die Sicht zu versperren. Sie bildeten eine Menschenkette und stellten sich vor die Kamera- und Fotoobjektive, um das Filmen der trauernden Schüler unmöglich zu machen. Selbsthilfe als Schutz vor der Presse. So weit musste es kommen. Der Trubel in den Medien über Germanwings-Flug 4U9525 hat sich in den letzten Wochen wieder gelegt. Die Presse hat nichts mehr zu berichten, das Interesse der Öffentlichkeit ist gestillt. Doch im Gegensatz zu der eigentlichen Flugzeugkatastrophe wurde das Verhalten der Journalisten in den Medien wenig thematisiert. Die Reporter und Redakteure, die sich Fehltritte erlaubt haben, werden auch bei der nächsten Katastrophe wieder ihre Arbeit verrichten. Sie werden erneut Opfer, Trauernde und Betroffene belästigen, Grenzen überschreiten und Regeln brechen. “Der Aufschrei ist vorbei” sagt Mika Baumeister. “Ich hoffe, dass die Menschenm gemerkt haben, dass das Verhalten einiger Journalisten nicht in Ordnung war.” Das hoffen wir auch. Und dass die Betroffenen endlich in Ruhe trauern dürfen.

Das Kerzenmeer vor dem Gymnasium in Haltern. Foto: actionpress/ Revierfoto

Das Kerzenmeer vor dem Gymnasium in Haltern. Foto: actionpress/ Revierfoto


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